31. Mai 2012 – Bereits seit Anfang der 90er Jahre lässt sich eine Krise im deutschen Tarifvertragssystem konstatieren. Die Zahl der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge nimmt kontinuierlich ab, die Tarifbindung der Betrieb geht zurück, die Zahl tarifvertragsfreier Branchen wächst und immer weniger Beschäftigte werden von einem Tarifvertrag erfasst. Wurden 1996 noch 70% der westdeutschen und 56% der ostdeutschen Bevölkerung von einem Branchentarifvertrag erfasst, so reduzierte sich der Anteil im Jahre 2010 auf nur noch 56% in West und 37% in Ost.
Nicht die einzigste, aber eine wesentliche Ursache für diese Entwicklung, die oftmals weniger Beachtung im breiten Publikum findet, liegt in einem veränderten Strategieverhalten seitens zahlreicher Arbeitgeberverbände begründet. Seit den 90er Jahre, durch vollzogenen Austritte und Austrittsdrohungen ihrer Mitgliedsunternehmen zunehmenst unter Druck geraten, führten viele Arbeitgeberverbände sogenannte „OT-Mitgliedschaften” ein – das Kürzel „OT” bedeutet dabei „ohne Tarifbindung”. Für Unternehmen bietet diese OT-Mitgliedschaft zweierlei Vorteile, sie kommen in den Genuss sämtlicher Vorteile einer Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband, sind jedoch nicht an den abgeschlossenen Tarifverträgen gebunden. Einen sehr herben Beigeschmack hat diese Strategie allerdings schon, denn in letzter Konsequenz unterstützt und fördert der Verband damit Unternehmen, die ihren Beschäftigten nicht einmal den eigens ausgehandelten Tariflohn zugestehen wollen. Genaue Zahlen darüber, wie viele Unternehmen von dieser Art der Mitgliedschaft Gebrauch machen existieren nicht, eine zunehmende Tendenz zeichnet sich nach Gewerkschaftsangaben in einigen Branchen aber bereits seit längerem ab. Auch die vom Bundesarbeitsgericht 2006 getroffene Entscheidung, dass eine OT-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband rechtlich grundsätzlich zulässig ist, hat diese Entwicklung ihrerseits beflügelt – lange Zeit war die Frage der Zulässigkeit ein sehr umstrittenes Thema.
Für viele Arbeitnehmer und die deutsche Tariflandschaft bedeutet diese Entwicklung insgesamt betrachtet natürlich einen weiteren Rückschritt. Die Erosion des Tarifvertragssystems schreitet weiter voran und unterhöhlt zunehmenst das sozialpartnerschaftliche Gefüge in der Bundesrepublik Deutschland. Die Gefahr von schleichendem Lohndumping unter der Obhut von Arbeitgeberverbänden zeichnet sich ab.